KW51/2022 – Solingen: Träumen Obusse auch “of a White Christmas”?

Guido KorffBild der Woche

Nicht nur Katzen haben bekanntlich sieben Leben, manchmal entwickelt auch ein Obus eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit – so wie Wagen 42 in Solingen!

Die Österreichische Automobilfabrik Gräf & Stift (ÖAF) in Wien (zum MAN-Konzern gehörig) liefert 1986/87 insgesamt 45 dreiachsige Solo-Trolleybusse vom Typ SL 172 HO an die Stadtwerke Solingen. Kiepe Elektrik in Düsseldorf rüstet sie mit den 1984 neu entwickelten Gleichstromstellern (Chopper) in Thyristor-Technik aus. Die Busse dieser Serie erhalten die Nummern 22-67 und prägen den Solinger Nahverkehr als Nachfolger der legendären TS-Serie. Ihre Länge ist so gewählt, dass sie in Burg auf der Drehscheibe gewendet werden können.

Zur weiteren Anwendung der Chopper kommt es bei Kiepe jedoch nicht mehr, da die Weichen bei der Antriebstechnik inzwischen in Richtung Drehstrom gestellt sind. So arbeitet die Elektronik-Industrie Mitte der 1980er Jahre mit Hochdruck auf dem Gebiet der Leistungshalbleiter an der Entwicklung schneller sog. GTO-Thyristoren (GTO = Gate turn off) mit hoher Leistung und Sperrspannung. Man kann daher auch schon absehen, dass die neue Technik rasch kostengünstiger, leistungsfähiger und kompakter werden wird.

Litt die Drehstromantriebe zuvor daran, dass die Vorteile der Wartungsarmut des Drehstrom-Motors durch ein erhöhtes Gesamtgewicht, größeres Volumen und einen höheren Preis der Antriebsausrüstung gegenüber dem Gleichstromsteller erkauft werden mussten, können die neuen GTO-Thyristoren wirtschaftlich zu den Gleichstromstellern aufschließen. 1986 trifft Kiepe Elektrik die Entscheidung, einen direkt an der Fahrdrahtspannung betriebenen Wechselrichter zu entwickeln. Das neue Konzept erhält daher den Namen „Direkt-Pulsumrichter“ (DPU).

1988 ist der erste Prototyp fertig und wird zunächst bei Kiepe Elektrik im Prüffeld ausgiebig getestet. Die Stadtwerke Solingen räumen Kiepe Elektrik dann jedoch die Möglichkeit ein, diese Ausrüstung im Wagen Nr. 42 der noch fast neuen Trolleybus-Serie einzubauen und „am Objekt“ zu erproben. Alle vor Beginn der Entwicklung gesetzten Ziele werden im Test erreicht und teilweise sogar übertroffen. War zunächst lediglich daran gedacht, den Direkt-Pulsumrichter für ein Jahr zu testen und den Bus dann wieder auf die Original-Ausrüstung zurückzubauen, so unterbleibt dieser Schritt, weil der Drehstrom-Direkt-Pulsumrichter „so gut läuft“.

Als 1995 der erste von Kiepe Elektrik entwickelte Direkt-Pulsumrichter in IGBT-Technik einschließlich der neuen Steuermodule in einem Fahrzeug erprobt werden soll, finden diese Prototyp-Komponenten wiederum ihren Platz im Fahrzeug Nr. 42.

2004 erprobt Kiepe dann im Obus 42 neue Steuermodule für die Antriebs-Umrichter und 2006 folgen schließlich die neuen “Super-Caps”, eine Kondensator-Batterie, die die Bremsenergie aufnimmt und sie beim Anfahren nutzt, um sie zur Serienreife weiterzuentwickeln. Obus 42 ist also die Antwort auf viele Fragen.

Obus 42 überlebt nicht nur alle diese Veränderungen, sondern auch seine sämtlichen Geschwister der Serie 22-67. Er befindet sich noch heute in der Klingenstadt in der Obhut des Obus-Museums Solingen.

Unser Bild zeigt eben diesen Trolleybus Nr. 42 eingeschneit im Winter 2006. Der hohe Schnee, die abgezogenen Stangen und die sanft leuchtenden Laternen schaffen eine winterliche Atmosphäre der Ruhe, die perfekt zu Weihnachten passt. Ein Rätsel aber bleibt: Wo wurde das Bild aufgenommen?

Die Redaktion vom „Bild der Woche“ wünscht besinnliche Festtage!

Carsten Kossow / Foto: Marcus Frey