KW47/2018 – Gießen: Ein kurzes “zweites Leben”

Guido KorffBild der Woche

Wenn man bei ebay alte Ansichtskarten von Gießen sucht, wird man mit großer Wahrscheinlichkeit auf dieses Motiv vom Marktplatz stoßen. Sicher waren die Bürger vor den großen Zerstörungen ihrer Stadt im Zweiten Weltkrieg stolz auf das prachtvolle Fachwerkhaus in der Bildmitte und das davor stehende Kriegerdenkmal mit Brunnenschale, aber ganz prominent vorgeführt wird auch die Straßenbahn, die hier gleich mit vier Triebwagen vertreten ist. Da gerät sogar das alte Rathaus ins Hintertreffen, von dem wir hier nur rechts das hohe Dach mit dem Stufengiebel erkennen können.

Bei dem Quartett auf Tramgleisen handelt es sich jedoch nicht um eine der vielen gestellten Szenen, die seinerzeit so beliebt waren, sondern die Fahrzeuge für die vier Richtungen der beiden Linien trafen sich tatsächlich tagsüber fahrplanmäßig alle 7 ½ Minuten an dieser Stelle. Die Strecken im Hintergrund kommen beide – auf verschiedenen Wegen – vom Bahnhof und kreuzen einander im Linienverkehr auf einer Doppelkreuzungsweiche, zu der die beiden Gleise vorn zusammenlaufen. Diese DKW sorgte für flexible Ausweichmöglichkeiten bei Betriebsstörungen.

Wie kam es nun dazu, dass dieser kleine Straßenbahnbetrieb überhaupt eingerichtet wurde? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Bevölkerung der Stadt etwa verdreifacht. Als Verwaltungszentrum der Provinz Oberhessen lag die Stadt im Mittelpunkt einer Region mit aufblühender Eisenproduktion und eigenen Zechen für Erz und Kohle. In der Nachbarstadt Wetzlar entwickelte sich eines der deutschen Zentren der optischen Industrie (u. a. Leitz/Leica und Minox), in Gießen selbst florierte die Messtechnik.

Tragisch wirkte sich später jedoch aus, dass die Stadt auch zu einer bedeutenden Garnisonsstadt wurde – und damit zum Ziel alliierter Kriegszerstörungen. Eingebrockt hat ihr diese Präsenz die sehr verkehrsgünstige Lage an einem Eisenbahnknotenpunkt mit direkten Verbindungen nach Frankfurt, Kassel, Koblenz, Köln bzw. Ruhrgebiet usw.

Eine private Bürgerinitiative richtete 1895 einen Pferdeomnibus-Betrieb ein, der schon weitgehend die späteren Schienenstrecken vorwegnahm. Da die Stadt keine Zuschüsse leistete, musste die angestrebte „richtige“ Straßenbahn noch einige Zeit vertagt werden. Mit dem weiteren Wachstum der Stadt fühlten sich die Honoratioren dann aber bei der Ehre gepackt und eröffneten am 20. November 1909 zwei normalspurige Straßenbahnstrecken: die grüne Linie zum Friedhof mit 3,5 km und die rote Linie, vorbei an den Kasernen, zum Schützenhaus mit 3,0 km Länge. Die Anfangsausstattung von zwölf Triebwagen wurde rasch auf 16 Motorfahrzeuge aufgestockt und um fünf Beiwagen ergänzt.

Dass man damals große Pläne für den weiteren Ausbau hegte, erkennt man an den Doppelscheinwerfern der Triebwagen. Da auch Überlandstrecken in die Nachbarorte ins Auge gefasst worden waren, hatte man die Fahrzeuge gleich dafür ausrüsten lassen. Später wurde dann sie auf reinen Stadtbetrieb umgebaut.

In den 1920er Jahren folgten noch einmal sechs Triebwagen und ein Beiwagen aus Wismarer Produktion. Benötigt wurden sie u. a. für eine bedeutende Erweiterung der grünen Linie durch die Zweigstrecke nach Wieseck im Jahre 1932, so dass sich der neue Höchststand von 8,4 km Streckenlänge ergab. Allerdings hatte man dafür gebrauchte Schienen aus Bochum gekauft, was schon nach wenigen Jahren die Verkehrssicherheit in Frage stellte.

Obwohl die Fahrgastzahlen zu den Kasernen steil anstiegen, führten doch gerade sie am 18. April und 17. Juni 1941 zur Einstellung der roten Linie in zwei Abschnitten. Verdrängt wurde die Straßenbahn von einem neuen Obus-Betrieb, der die neuen, vergrößerten Militäranlagen flexibler und leistungsfähiger bedienen sollte. Die enge Altstadt wurde dafür bewusst umfahren.

Die grüne Linie nahm direkt nach Kriegsende ihren Betrieb auf einem Teilabschnitt wieder auf. Für ihren Ersatz hatte es in der Kriegszeit nicht mehr gereicht. Da man 1941 bereits einige Fahrzeuge abgegeben hatte und weitere im Kriegsverlauf beschädigt wurden, beschaffte die Straßenbahn 1949 sogar noch zwei Kriegsstraßenbahn-Beiwagen. Genützt hat es aber nichts: Am 31. März 1953 fuhr die letzte Straßenbahn in Gießen. Der Obus war wiederhergestellt und die verschlissenen Gebrauchtschienen auf der Wiesecker Strecke besorgten den Rest.

Bemerkenswert ist jedoch, wie sich ein Relikt der Gießener Straßenbahn bis heute halten konnte – wenn auch in „Verkleidung“. Die beiden noch fast neuen KS-Beiwagen 11 und 12 fanden in der Düsseldorfer Rheinbahn dankbare Abnehmer. Als Bw 332 und 333 standen sie bis 1966 am Rhein im Einsatz und wechselten dann an den Main nach Frankfurt (Bw 1465 und 1466).

Bw 1465 ex Gießen Bw 11 kehrte 1978 dann für zwei Jahrzehnte als „Denkmal“ an die Lahn zurück, bis sich aufwändige Pflegemaßnahmen ankündigten. Nach einem kurzen Gastspiel in der Sammlung in Schwerte ersteigerte die Rheinbahn den Wagen und stellte ihn in ihre Sammlung ein. Heute kann er – als Bw 332 aufgearbeitet – hinter dem passenden Motorwagen Tw 14 im Museumseinsatz erlebt werden.
-gk- / Foto: Sammlung -gk-

Quellen:
• Eckert, Dieter / Augstein, Dietrich: Am Marktplatz treffen sich die Linien, Düsseldorf 1989
• Wikipedia
• http://www.tram-info.de/sms/W11.htm