KW46/2018 – Caen: “Schöner Warten” – Florale Formen im Verkehr

Guido KorffBild der Woche

Die Politiker von Caen in Nordfrankreich hatten womöglich zu viel von ihrem ihrem regionalen Spezialgetränk Calvados – einem Apfelbranntwein – genossen, als sie sich vor zwei Jahrzehnten bei der großen Renaissance der Straßenbahn in unserem Nachbarland gegen den allgemeinen Trend für eine „Tram sur Pneu“ entschieden; also moderne spurgeführte Gelenkfahrzeuge auf Gummireifen. Ausgewählt wurde das System TVR von Bombardier.

Zu ihrem Leidwesen mussten die Stadtväter in Caen später lernen, dass die Belastung der Fahrbahnen durch schwere Omnibusse in immer gleichem Spurverlauf Unterhaltskosten verursacht, die langfristig den Aufwand für eine solide Straßenbahnstrecke deutlich übertreffen. Als problematisch erwies sich außerdem die mittige Führungsschiene, die insbesondere in Kurven ihrer Aufgabe oft nicht gerecht wurde und die Fahrzeuge „entgleisen“ ließ, was sich in ungeplanten Fahrverläufen niederschlug.

Immerhin zeigte man sich lernfähig und stellte am 31. Dezember 2017 den TVR-Betrieb ein. Ein „normales“ Straßenbahnsystem soll den Spurbus ersetzen und bereits im Herbst 2019 eröffnet werden. Aufgrund der großen Eile bei der Umstellung wird allerdings auf die große „Stadtrenovierung“ verzichtet, die die meisten französischen Straßenbahnprojekte der zweiten Generation auszeichnet.

Das ist bedauerlich, denn in der ersten Tram-Generation hatte man schon unter Beweis gestellt, wie eine stilvolle Straßenbahn-Infrastruktur das Stadtbild bereichern kann. Wir sehen hier die Straßenbahn-Wartehalle am Boulevard (heute: Place) St. Pierre, wo alle Schienenstrecken des kleinen Netzes aufeinander trafen. Hinter der Halle erkennt man links die Hauptkirche der Stadt, St. Pierre, erbaut zwischen 13. und 16. Jahrhundert. Diese Straßenecke im Zentrum von Caen wurde auch vom TVR bzw. wird auch von der künftigen Tram befahren. Die Straßen sind zwar heute als „Flaniermeilen“ angelegt, aber alle sichtbaren Bäume sind inzwischen verschwunden.

Die alte „Compagnie des tramways électriques de Caen“ (TEC) kam als vorgezogenes „Weihnachtsgeschenk“ nach Caen und nahm am 02. Dezember 1901 ihren Betrieb auf den meterspurigen Gleisen der Linie 1 auf. Schon am 09. Dezember und am 21. Dezember des gleichen Jahres folgten die Linien 2 und 3. Auf dem kleinen Netz von insgesamt 11 km Länge drängten sich später sechs Linien, von denen Linie 5 aber nur zwei Jahre überlebte und Linie 6 gar nicht erst eröffnet wurde.

Der Anfang vom Ende begann dann 1932, als die Linie 1 auf Omnibus umgestellt wurde. Am 23. Januar 1937 war die Tram in Caen schließlich erst einmal Geschichte, die Fahrzeuge wurden nach Cherbourg verkauft.

Während das alte Straßenbahnnetz in Ost-West-Richtung angelegt war und nach Westen in die „Chemin de fer du Calvados“ überging, orientieren sich die neuen Strecken von TVR bzw. künftiger Straßenbahn von Norden nach Süden mit einer Stammstrecke, die sich an beiden äußeren Enden in zwei Äste aufteilt.

Der Nachfolger TVR startete fast genau 65 Jahre später, am 18. November 2002. Immerhin waren die gebauten Strecken mit 15,7 km bereits wesentlich größer als das alte Netz. Dass schon nach 15 Jahren der Daumen über den TVR gesenkt wurde, war neben den genannten technischen Problemen vor allem der Entscheidung von Bombardier zuzuschreiben, das System TVR nicht weiter anzubieten. Die neuen Schienenfahrzeuge liefert nun verständlicherlicherweise Alstom (Citadis 305).

Doch zurück zu unserer Wartehalle. Sie erinnert stark an die berühmten Eingänge zu den Stationen der Pariser Metro. Nach einem Design-Wettbewerb mit unbefriedigenden Ergebnissen wurde damals der Architekt Hector Guimard mit einem Gestaltungskonzept beauftragt. Insgesamt entstanden zwischen 1900 und 1911 nach seinen Entwürfen 141 Metro-Zugänge, von denen heute noch 86 existieren und glücklicherweise unter Denkmalschutz stehen. Die typischen Formen, die Pflanzen nachempfunden sind, lassen sich stilistisch dem Jugendstil – in Frankreich „Art Nouveau“ genannt – zuordnen. Sie zählen heute zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten der Seine-Metropole.

Und wie kam Hector Guimard zu seinem Auftrag? Richtig: Er hatte die hier gezeigte Wartehalle für die Straßenbahn in Caen entworfen und damit in Fachkreisen Aufmerksamkeit erregt. Er hatte zwar nicht an dem Wettbewerb der Metro-Gesellschaft teilgenommen, bekam den Auftrag aber aufgrund einer Empfehlung des Präsidenten der Metro-Gesellschaft, der ein Anhänger des „Art Nouveau“ war.

Ob Hector Guimard wohl seine Kreativität damals mit einem Gläschen Calvados beflügelt hat?

-gk- / Foto: Sammlung -gk-

Quellen:
• Wikipedia