KW21/2022 – Düsseldorf: Simsala-BIM ?

Guido KorffBild der Woche

Wer angesichts dieser Überschrift jetzt glaubt, dass Ihr Redakteur in den letzten Tagen zuviel Sonne abbekommen hat, übersieht ein Detail in diesem Bild: Obwohl der Straßenbahnwagen zweifellos aus Lissabon stammt, hält er hier an einer Haltestelle der “Wiener Linien” und im dortigen Volksmund heißen die Straßenbahnen “Bim”. Aber irgendwie sieht die Szenerie weder nach Wien noch nach Lissabon aus…

Der abgebildete Zweirichtungs-Straßenbahn-Triebwagen Nr. 616 des Lissaboner Verkehrsbetriebs CARRIS befand sich zu dem Zeitpunkt, als das Foto im Oktober 1995 entstand, tatsächlich wie die Aufschrift über den Fenstern und die Umgebung vermuten lassen, auf dem Werksgelände der Firma Kiepe Electric in Düsseldorf-Hassels. Aber was hat den Wagen nach Düsseldorf versetzt?

Zauberei ist es jedenfalls nicht. Im Jahre 1992 erhielt ein Konsortium, bestehend aus der Essener Firma Ferrostaal, der Nürnberger MAN GHH und Kiepe Electric von CARRIS in Lissabon den Auftrag zur Modernisierung von 45 dieser zweiachsigen Triebwagen, damit sie weiterhin als Touristen-Magnet ihre Runden durch Lissabons Altstadt drehen können.

Die Strecken dort weisen Steigungen von bis zu 14,5 % (die steilste Straßenbahn-Strecke der Welt), Kurvenradien unter 10 m, Gleisverschlingungen und durch Ampeln gesicherte eingleisige Streckenabschnitte auf. Diesen Bedingungen ist bis heute kein moderner Gelenktriebwagen gewachsen und so haben sich die Lissaboner Verkehrsbetriebe zu dieser Modernisierungslösung entschlossen.

Die Fahrzeuge erhielten ein neues Fahrgestell mit leistungsstärkeren Fahrmotoren und einen – im Vergleich zu den Vorgängermodell von English Electric aus dem Jahre 1935 – „modernen“ Nockenfahrschalter von Typ NF 51 (entwickelt 1951), mit dem beim Anfahren durch eine Serien-Parallel-Umschaltung Energie gespart werden kann, außerdem bremst er generatorisch – und damit verschleißfrei – auf Bremswiderstände.

Als dieser Auftrag Ende 1994 zur vollsten Zufriedenheit des Kunden abgeschlossen werden konnte, erhielt Kiepe Electric den Triebwagen Nr. 616 als Geschenk für die gute Auftragsabwicklung. Dieser Triebwagen vom Typ 21E gehörte zur Serie 613-617 und wurde 1935 gebaut. Das Fahrgestell stammt von Maley & Taunton, der Wagenkasten wurde von CARRIS gebaut und die Elektrik lieferte English Electric London. Ausgemustert wurde der Triebwagen Ende 1994.

Die Hauptwerkstatt der Rheinbahn versetzte den Triebwagen wieder in den Original-Zustand mit gelb-weißer Lackierung und Kiepe präsentierte den Wagen auf verschiedenen Messen und Ausstellungen. So war der Triebwagen im Mai 1995 auf dem Kiepe-Stand bei der UITP-Ausstellung in Paris zu sehen. Der Stand war so gestaltet, dass man im Inneren der Bahn die Illusion hatte, man sei tatsächlich in Lissabon! Dieser Effekt wurde mit einer Fototapete mit dem Blick von einem der Aussichtspunkte in der Lissaboner Altstadt Alfama erzeugt. Wahrscheinlich wurde kein Objekt von den Besuchern der Ausstellung so häufig bestaunt und fotografiert wie die Lissaboner Straßenbahn auf dem Kiepe-Stand.

Danach fand der Triebwagen seinen Platz auf dem extra dafür verlegten 900 mm-Gleisstück auf dem Kiepe Werksgelände, wo auch das “Bild der Woche” entstand. Vielfach zog er fortan die Blicke der Besucher des Hauses auf sich. Zu diesem Fahrzeug musste zahllose Fragen beantwortet werden und so manche Besuchergruppe posierte für ein Foto vor der Bahn.

Die nächste Reise dieses Fahrzeugs ging dann „nur“ in den Kunstpalast in Düsseldorf, wo es anlässlich der Sonderausstellung zum 100-jährigen Jubiläum der Rheinbahn im Mai und Juni 1996 zu besichtigen war. Bei dieser Reise gestaltete sich insbesondere der Transport in die Halle sehr schwierig, da zwischen Hallentor und Fahrzeug nur 11 cm „Luft“ blieben.

Eine weitere Reise führte dann nach Stuttgart, wo im Juni 1998 der 52. UITP-Kongress stattfand Auch hier war die Bahn, die wieder als Besprechungsraum diente, der Blickfang des Kiepe-Standes und wurde erneut von Fachpublikum und Fans viel beachtet.

Anschließend stand die Bahn dann wieder auf ihrem angestammten Platz auf dem Kiepe-Werksgelände. Über die Jahre hatte sie mit ihren Holzaufbau aber doch stark unter dem feuchten und kalten Düsseldorfer Wetter gelitten, so dass sie dringend untergestellt werden musste, um den weiteren Verfall zu stoppen. Kurzerhand bot hier die Rheinbahn ihre Hilfe an und so wurde die Bahn im Jahre 2001 auf einem Hilfsfahrgestell (welches notwendig war, da die Rheinbahn eine Spurweite von 1435 mm, die Lissaboner Bahn aber nur 900 mm Spurweite aufweist) trocken im Betriebshof Lierenfeld untergestellt.

Da die Bahn aber nicht so recht in die Düsseldorfer Fahrzeugsammlung passte, wurde sie im Mai 2007 über ebay an einen Gastronomen in Düsseldorf-Kaiserswerth versteigert. Der neue Besitzer hat den Wagen im Garten des Café Steinroth an der Kalkumer Schloßallee 1 – abgedeckt von einer Plane – aufgestellt. Ein bißchen Zauberei wäre jetzt aber schon nötig, damit das nicht die Endstation für den Wagen bedeutet – das Café ist jedenfalls bis auf Weiteres geschlossen…

Carsten Kossow / Foto: Carsten Kossow