Vor über zehn Jahren – im Juni 2011, zum Zeitpunkt der Aufnahme – müssen wohl viele Solinger geglaubt haben, dass sie eine Fata Morgana sehen, als ihnen dieses Fahrzeug begegnete. Vor dem ehemaligen Rathaus des Solinger Stadtteils Gräfrath ergibt sich daraus ein reizvoller Kontrast. Aber der futuristisch anmutende Obus davor ist echt und tatsächlich auch dort gefahren. Heute wissen wir allerdings, dass er nicht der erste Wagen einer neuen Obus-Flotte für Solingen werden sollte.
Nun, die Aufklärung ist einfach: Dazu muss man wissen, dass im Süden der benachbarten Landeshauptstadt Düsseldorf, im Stadtteil Hassels, die altbekannte Firma Kiepe Electric ihren Stammsitz hat, die elektrische Ausrüstungen u. a. für Obusse entwickelt und fertigt. Und da die Stadtwerke Solingen nicht nur seit Jahrzehnten ein guter Kunde von Kiepe Electric sind, sondern auch das größte Obus-Netz Deutschlands betreiben, kommt es immer wieder vor, dass Kiepe Electric Obusse, die für andere Städte gebaut wurden, im Solinger Netz ausgiebig testet, bevor sie an die jeweiligen Kunden ausgeliefert werden.
So fuhren durch Solingen bereits Trolleybusse für Gent und Athen, lange bevor sie in den jeweiligen Städten zum Einsatz kamen. Ähnlich war es auch in diesem Fall: Bei dem Gelenkobus auf dem Foto handelt es sich um den ersten von zwölf Wagen, die die Firma Viseon im bayrischen Pilsting zusammen mit Vossloh Kiepe (so firmierte Kiepe Electric damals) für den Einsatz an der saudi-arabischen König-Saud-Universität in Riad, Saudi-Arabien, gebaut hat.
Riad zählt als Hauptstadt Saudi-Arabiens 4,6 Millionen Einwohner. Die Urbanisierung im Königreich Saudi-Arabien schreitet seit Jahrzehnten unaufhaltsam voran: Durch den märchenhaften Ölreichtum hat sich das ganze Land so tiefgreifend verändert wie kaum ein anderes, wobei allerdings die Menschenrechte, insbesondere die Rechte der Frauen, leider immer noch stark eingeschränkt sind.
Bis in die 1960er Jahre lebten die Saudis überwiegend als Beduinen, heute sind mehr als 80 Prozent der „Wüstensöhne“ sesshaft. In den 1970er Jahren haben sie innerhalb von einer Generation ihre Beduinenzelte abgebrochen und sind in oft futuristisch wirkende, neue Städte gezogen. Dort dominieren westliche Technologien das Leben und ließen u. a. Riad sowie die Handelsmetropole Dschidda in kürzester Zeit um ein Vielfaches wachsen.
Der Campus der 1957 gegründeten und damit ältesten Universität des Landes – der König-Saud-Universität – erstreckt sich über eine Fläche von zwölf Quadratkilometern, auf der das Obus-Verkehrssystem entstanden ist, für das der gezeigte Wagen bestimmt war.
Auf der Arabischen Halbinsel herrscht trockenheißes Klima. Im Sommer gehen die Temperaturen tagsüber bis auf 50 Grad Celsius hoch, im Winter kann nachts der Gefrierpunkt unterschritten werden. Deshalb ist eine besonders leistungsstarke Klimatechnik gefragt. Der hohe Energiebedarf der Klimaanlagen und die anspruchsvolle Kühlung der Elektronik auf dem Dach der Fahrzeuge erforderten eine Überarbeitung des Systemdesigns sowie eine Anpassung der Technik an die Gegebenheiten.
Das kurvenreiche Design des Wagens passt gut zum Gräfrather Rathaus, das den “Bergischen Farbendreiklang” mit dem Jugendstil verbindet. “Florale”, rundliche Formen gehörten zu den prägenden Stilelementen des Jugendstils und sind hier vielfältig eingesetzt. Entworfen wurde das Gebäude von dem Architekten Arno Eugen Fritsche und 1907/08 gebaut. Heute beherbergt es das Kunstmuseum Solingen.
Als der Gelenkbus im Juni 2011 durch Solingen fuhr, wurde in den Bürgern sicher manche Erwartung geweckt – aber der schicke Obus sollte wie eine eine Fata Morgana nur eine flüchtige Erscheinung bleiben.
Carsten Kossow / Foto: Marcus Frey
(Das Foto ist auch als Ansichtskarte in unserer Bücherstraßenbahn erhältlich – solange der Vorrat reicht!)