KW17/2022 – Zeitz: Ich sehe was, was Du nicht siehst…

Guido KorffBild der Woche

Er schaut erwartungsvoll in die Richtung der Kamera seines Vaters, der kleine blonde Steppke, der mittlerweile schon über 50 Jahre Mitglied unseres Vereins ist: Michael Malicke auf Besuch bei den Großeltern in Zeitz.

Der kleine Michael bemerkt garnicht, was sein technikinteressierter Vater in dem Schnappschuss sonst noch eingefangen hat. Es ist ein Doppelstock-Omnibus DO 56 aus Bautzener Produktion. Gebaut in den Jahren 1957-59 mit über 100 Exemplaren für Berlin, fanden nur wenige Wagen den Weg in die größeren Provinzstädte. Der Stadtverkehr von Zeitz dürfte eine solche Kapazität eher nicht benötigt haben. Also ein echter Glückstreffer!

Der Bus befährt den “Wendischen Berg” in Zeitz. Doch wo sitzen die gutgelauten Damen mit dem kleinen Michael? Auch sie befahren den “Wendischen Berg” – auf Deutschlands erster öffentlicher Standseilbahn. Technikgeschichte wird also durchaus auch mal in der Provinz geschrieben!

Die Stadt Zeitz liegt im Länderdreieck von Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Bereits 1859 fand die Eröffnung der Bahnlinie Weißenfels – Zeitz – Gera statt. Weitere folgten. In der Nachbarschaft gab es ergiebige Braunkohlevorkommen sowie eine umfangreiche Industrie mit Eisengießerei, Maschinenbau, Herstellung von Kinderwagen und Klavieren sowie später auch Chemie.

1877 wies die Statistik bereits 17.000 Einwohner aus. Prägnant bis heute ist die Teilung der Stadt in die Unterstadt mit der Bahnlinie und dem Fluss Weiße Elster, sowie die Oberstadt mit Zentrum und Schloss.

Die Verbindung zwischen beiden Stadtteilen vermittelt der “Wendische Berg”, der damals mit Vorspannpferden, die an seinem unteren Ende beim Gasthof „Zur Sonne“ untergestellt waren, für die Gütertransporte bezwungen wurde. Im Winter bei Eis und Schnee war die Steigung von max. 125 Promille aber kaum zu überwinden.

Bereits 1862 und 1872 waren in Lyon (Frankreich) die ersten beiden Standseilbahnen der Welt errichtet worden. Eduard Tretrop, ein deutscher Bahnexperte, der zuvor schon maßgeblich beim Bau der Bahnstrecken in der Region beteiligt war, entwarf die erste deutsche Standseilbahn für den öffentlichen Verkehr: die Zeitzer Drahtseil-Eisenbahn!

Die technischen Daten der Zeitzer Drahtseil-Eisenbahn

  • Streckenlänge: 305 m
  • Höhenunterschied: 46 m
  • Neigung maximal: 12,5 %
  • Spurweite: 1435 mm

Die Zwillingsdampfmaschine lieferte die Zeitzer Eisengießerei und Maschinenfabrik AG. Das 20mm starke Eisendrahtseil stammte ebenfalls aus heimischer Produktion

Aufgrund der mangelnden Breite war eine zweigleisige Anlage nicht möglich, aber die Abt’sche Weiche noch nicht erfunden. Die Lösung war zwar eine zweigleisige Strecke, wobei jedoch oberhalb und unterhalb der Streckenmitte ein platzsparendes Vierschienengleis verlegt wurde. Die gesamte Anlage mit 305 m Länge lag bergauf gesehen links neben der Straße und beschrieb eine weite Linkskurve. Dabei wurden 46 m Höhenunterschied überwunden.

Die heute üblichen Seilführungsrollen existierten damals auch noch nicht. Tretrop baute deshalb entlang der gesamten Strecke waagrechte Walzen zum Stützen des Seils und zusätzlich im Gleisbogen senkrechte zu seiner seitlichen Ablenkung. Die Antriebsmaschine befand sich in der Bergstation.

Am 5. August 1877 – ein sonniger Sonntag – fand die Eröffnung statt. Tausende Menschen drängelnden sich entlang der Bahn. Man nannte sie das „achte Weltwunder“ und Spötter sprachen von der „längsten Bahn der Welt“. Sie fahre vom Wendischen Berg (Bergstation) bis zur Sonne (Talstation mit gleichnamigem Wirtshaus) in nur drei Minuten!

Die beiden Schienenfahrzeuge waren einfachste zweiachsige Flachwagen ohne Neigungsausgleich. An den Endstationen war das Gleis etwas versenkt verlegt, so dass die Plattformwagen von der Kopfseite her befahren werden konnten. Am seitlichen Geländer befanden sich klappbare Sitzbänke für die Fahrgäste. Dies entsprach der Hauptaufgabe, vorrangig Pferdefuhrwerke und Handkarren zu befördern. Wir sehen die Wagen hier zwar jetzt nicht, aber wir verpassen damit auch nicht viel…

In der Anfangszeit gab es gleich mehrere Unfälle. Der letzte nennenswerte bestand aus der Explosion des Dampfkessels am 7. Februar 1889.

Danach verlief der Alltag der Zeitzer Drahtseil-Eisenbahn so zuverlässig wie eine Taschenuhr aus Glashütter Produktion. Für das Jahr 1912 wies die Statistik die höchsten Betriebsleistungen aus: Bei 34.367 Fahrten wurden 21.921 Zweispänner, 3756 Einspänner und 130.000 Fahrgäste befördert!

Die Stadtplanung beschäftigte sich in dieser Zeit mit dem Bau einer Straßenbahn. Für die Standseilbahn hätte dies aber kaum eine Konkurrenz bedeutet, da sie ja im Wesentlichen für den Gütertransport auf dem Steilabschnitt im Einsatz war. Der Erste Weltkrieg machte alle Straßenbahnpläne zunichte.

Tag für Tag rollten die beiden Wägelchen den Wendischen Berg rauf und runter. 1954 bekam die inzwischen verstaatlichte Einrichtung noch eine Grundüberholung mit neuen Schienen und zwei neuen Wagen. Doch die Motorisierung des Güterverkehrs setzte immer stärker ein und 1956 nannte die Stadt Zeitz eine Summe von jährlich 12.000 Mark als erforderlichen Zuschuss. Und Reparaturen und neuere Sicherheitseinrichtungen standen auch an…

Mitte 1959 stiegen die Gesamtverluste seit 1955 auf 264.000 Mark an. Ähnlich wie bei der Barmer Bergbahn sprach sich die Bevölkerung für den Erhalt der ältesten deutschen Standseilbahn aus. Es gab Proteste, aber immer weniger Pferdefuhrwerke rollten auf die Bahnwagen. Nach 82 Jahren Betrieb stand das Zugseil ab dem 13. Dezember 1959 für immer still. Die beiden Wagen erhielten in der örtlichen Eisengießerei noch eine letzte Verwendung, die Gleise verschwanden bis Ostern 1960.

Heutzutage gibt es einen Förderverein, der sich für den Neubau einer „Drahtseileisenbahn“ ausspricht. Die Trasse dafür existiert immer noch!

Michael Malicke / Foto: (Sammlung) Michael Malicke