KW01/2019 – Turin: Zurück in die Zukunft

Guido KorffBild der Woche

Italien teilt mit Deutschland das historische Schicksal, erst recht spät aus einer Vielzahl von unabhängigen Kleinstaaten zu einer größeren politischen Einheit vereinigt worden zu sein. Darin unterscheiden sie sich z. B. von Frankreich oder Großbritannien, wo schon jahrhundertelang für das ganze Land in Paris oder London „die Musik spielte“.

Während die fleißigsten und produktivsten Deutschen heute im Süden der Bundesrepublik leben, ist es in Italien umgekehrt; die Wirtschaft konzentriert sich im Norden auf Piemont, Lombardei und Veneto. Und so wie bei uns die Landsmannschaften ihre Eigenheiten pflegen, fällt es den stolzen Neapolitanern oder Sizilianern schwer zu akzeptieren, dass sie am „Tropf“ der starken Nordregion hängen.

Da erschien es sinnvoll, die italienische Einheit immer wieder feierlich zu beschwören. Da uns die Italiener in manchen Dingen etwas (in diesem Fall zehn Jahre) voraus sind, datieren sie das große Ereignis auf 1861, als Viktor Emanuel II. in Turin zum italienischen König gekrönt wurde. Damit lag es zugleich nahe, das 100jährige Jubiläum ebenfalls in der Hauptstadt der Region Piemont zu feiern. Wir sehen auf unserem Bild also den Ort eines nationalen Festes, aber in zweiter Linie auch eine „Weltausstellung“. Die internationale Wahrnehmung war allerdings eher bescheiden.

Wie bei Veranstaltungen dieser Art üblich, gab es ein modernes Transportmittel, das den Besuchern einen Überblick über die Attraktionen verschaffen sollte. In Turin teilten sich sogar zwei Bahnen diese Aufgabe: Eine ALWEG-Bahn (ital. = “Monorotaia”) verkehrte vom „Palast der Arbeit“ im Süden des Geländes – hier im Hintergrund zu sehen – bis zu einer Station am nördlichen Ende, an der in eine Gondelbahn zu einem separaten zweiten Teil des Ausstellungsgeländes umgestiegen werden konnte. Letztere wurde wegen der rundlichen Formen ihrer Kabinen „Ovovia“ (= „Eier-Bahn“) genannt.

Die ALWEG-Bahnstrecke war ca. 1,8 km lang. Zwischen den beiden Stationen pendelte ein dreiteiliger Gelenkzug, der zwar von LHB und Kiepe in Deutschland gebaut wurde, aber ein italienisches Design von der Fa. Ghia erhielt. Mit 113 KW Motorleistung wären 90 km/h Höchstgeschwindigkeit möglich gewesen, auf der kurzen Strecke war aber selbst mit 50 km/h die Fahrt viel zu schnell vorbei…

Das Bild täuscht nicht: Der Fahrgastraum-Fußboden liegt weitgehend oberhalb des Fahrbalkens, so dass nur einige wenige Podeste in der Mitte der Wagenlängsachse den freien Durchgang zu den Sitzplätzen behindern. Die Kapazität wird mit 80 Sitz- und 120 Stehplätzen angegeben.

Da es sich um die erste „verkaufte“ Anwendung der Technologie in Originalgröße handelte, versprach man sich von der Bahn wichtige Impulse für die weitere Vermarktung. Pläne, die Bahn in Turin nach der Veranstaltung von 1961 weiter verkehren zu lassen (gelegentlicher Zugbetrieb bis Herbst 1963) und später zu einer 12 km langen Schnellbahnlinie auszubauen, verliefen im Sande. Die Stadt konnte sich nicht recht entscheiden und überließ Anlage und Park nach 1963 ihrem Schicksal. Erst in den 70er Jahren besann man sich der ALWEG-Bahn, aber da war es für den formschönen Zug bereits zu spät: Vandalen hatten ganze Arbeit geleistet, so dass nur die Verschrottung der traurigen Reste übrig blieb.

Interessanterweise wurde die Anlage allerdings auch danach nicht vollständig abgerissen. Die hier sichtbaren 200 m des Fahrbalkens stehen auch heute noch etwas verloren im See, auch die südliche (offene) Endstation am jenseitigen Seeufer ist noch vorhanden. Der größere, geschlossene nördliche Bahnhof wurde dagegen um 2006 im Vorfeld der Olympischen Winterspiele saniert und umgebaut. Er ist heute Teil einer Kinderklinik.

-gk- / Foto: Sammlung -gk

Quellen:
• Wikipedia
• Krischer, Reinhard: Alweg-Bahn – Technik. Geschichte und Zukunft der legendären Einschienenbahn, Stuttgart 2003