KW 36/2018 – Richmond: Pioniere leben länger…

Guido KorffBild der Woche

Die elektrische Bahn wurde in Deutschland erfunden – sagt man. Werner Siemens (das „von“ wurde ihm erst 1888 verliehen) wird diese Pioniertat zugeschrieben, im Jahre 1879 hatte er damit die Öffentlichkeit überrascht. Auch die praktischen Anwendungsfälle folgten sogleich Schlag auf Schlag: die erste Straßenbahn 1881, der erste Trolleybus 1882.

Aber dann ging es nicht recht weiter, weil ein scheinbar kleines Detail fehlte: ein betriebstaugliches und zuverlässiges System zur Stromzuführung und -rückleitung. Zahllose Versuche mit Kontaktwägelchen und Rohrleitungen in Europas und Nord-Amerika führten nicht zum Ziel. Erst Straßenbahnbetrieb Nr. 75 schaffte den Durchbruch: Richmond in Virgina (USA), eröffnet am 2. Februar 1888.

Haben Sie sich eigentlich schon mal gefragt, warum gerade Richmond und wie dieser Betrieb aussah und was aus ihm geworden ist?

Richmond war seit 1780 Hauptstadt des US-Bundesstaats Virginia. Seine relativ südliche Lage an der Atlantikküste brachte die Region in die Nähe der „Südstaaten“ und damit in die Kampfzone des Bürgerkriegs. Nach heftigen Zerstörungen regenerierte sich die Stadt aber schnell wieder und wurde rasch zu einem industriellen Zentrum, z. B. für die Verarbeitung von Virginia-Tabaken, die von der hier erfundenen, ersten Zigarettendrehmaschine profitierte.

Um 1890 lebten ca. 80.000 Menschen in Richmond, das wegen seines relativ kleinen Stadtgebiets (3 Meilen rund um das Zentrum) als eine der dichtest besiedelten Städte der USA galt. Gute Voraussetzungen also für eine Straßenbahn: Innovationsgeist, Bevölkerungsdichte, ausreichende Reisedistanzen.

Richmond war – wie die meisten Städte in den USA – mit schachbrettförmigem Straßenraster angelegt worden. Zugleich ergab sich aufgrund der Topographie – die Stadt liegt am James River – ein kreuzförmiger Grundriss, der sich auch im Streckennetz abbildete.

Die neue Straßenbahn wurde gezielt eingesetzt, um die Vororte zu besiedeln. Gleichzeitig gab es Verbindungen, die einige „Anziehungspunkte“ für die Einwohner leichter erreichbar machten: das waren einerseits Friedhöfe für gefallene Soldaten des Bürgerkriegs (z. B. der „National Cemetery“ in Seven Pines, ca. 15 km entfernt), andererseits aber auch drei Vergnügungsparks an verschiedenen Endstellen. Hinzu kamen außerdem noch mehrere Überlandlinien, so z. B. in die südliche Nachbarstadt Petersburg (21 Meilen = ca. 34 km).

Was war an der Straßenbahn in Richmond so besonders? Eng verbunden ist sie mit dem Namen Frank Julian Sprague (1857 – 1934), der als Erfinder zahlreicher Verbesserungen im Bereich des elektrischen Verkehrs gilt. In den USA trägt der den Beinamen „Father of Electric Traction“. Ursprünglich Marineoffizier, hatte er später für Thomas Edison gearbeitet.

Sprague entwickelte den von Charles Van Depoele 1885 erfundenen Stromabnehmer zur Praxisreife weiter, bei dem eine Stange mit Federdruck eine Rolle an die Fahrleitung drückte. Weitere Fortschritte brachten seine Ideen zur verbesserten Motoraufhängung und Kraftübertragung. Auch mit der Stromrückgewinnung beim Bremsen soll er sich schon beschäftigt haben.

In Richmond wurde vor allem sein Stangenstromabnehmer zum Erfolgsfaktor. Im Herbst 1887 starteten erste Versuche, am 2. Februar 1888 nahm die “Richmond Union Passenger Railway” ihren Betrieb mit zehn Triebwagen auf. Die Spannung lag bei 450 V, die Wagen verfügten über zwei Motoren zu je 5,6 kW. Die Bahn bewährte sich und so wuchs das System bis Sommer 1888 schon auf 12 Meilen Strecke (ca. 19 km) und 40 Wagen an.

In der hügeligen Landschaft von Virginia waren dabei von Anfang an auch Steigungen um die 10 % zu meistern (z. B. Church Hill). Da dies zuverlässig gelang, trat die neue Straßenbahn in unmittelbaren Wettbewerb mit dem bisherigen „Platzhirsch“ im städtischen Nahverkehr – den Kabelstraßenbahnen („Cable Cars“), die sich um die gleiche Zeit stark ausbreiteten. Ihren endgültigen Durchbruch erlebte die Straßenbahn-Technologie 1889, als in Boston statt Cable Cars eine Straßenbahn nach dem Vorbild der Anlage in Richmond eingerichtet wurde.

Das Patent wurde auch bald nach Deutschland importiert und die AEG erwarb die Stadtbahn Halle (Pferdebahn), um sie bis 1891 entsprechend zu elektrifizieren. Damit gilt ihr Eröffnungstag für den elektrischen Betrieb, der 24. April 1891, als „Geburtstag“ der praxistauglichen Straßenbahn in Deutschland.

Das weitere Schicksal des Trambetriebs in Richmond ist schnell erzählt. Gegründet als Privatgesellschaft, erfolgte 1925 die Übernahme durch den lokalen Stromversorger. Ein Gerichtsentscheid im Jahre 1944 verpflichtete den Stromversorger, sich auf sein Kerngeschäft zu konzentrieren und die Bahn in die neue „Virginia Transit Company“ einzubringen. Diese begann 1947 mit der Umstellung auf Omnibusse. Da seit dem Eigentumsübergang in den 20er Jahre nicht mehr in modernes Wagenmaterial (z. B. PCC) investiert worden war, wirkten die neuen Omnibusse auch durchaus als attraktive Alternative.

Unser Bild zeigt eine Szene aus dem letzten Jahr vor der Betriebseinstellung. Tw 468 lässt im Talgrund am James River einen Güterzug der Southern Railway passieren. Über die Brücke im Vordergrund verläuft eine Bahnstrecke einer anderen Gesellschaft. Das „klotzige“ Hochaus in Bildmitte existiert heute noch und gehört zu den Regierungsgebäuden des Bundesstaats. Es verdeckt das „State Capitol“, das einem griechischen Tempel nachempfunden ist.

Der Straßenbahnverkehr in Richmond endete am 25. November 1949. Erst im Jahre 2018 kehrte ein neuzeitliches und schnelles Verkehrsmittel für den Stadtverkehr nach Richmond zurück: „GRTC Pulse“ – eine 11 km lange Schnellbus-Linie mit teilweise eigenen Fahrbahnen.

-gk- / Foto: Sammlung -gk

Anmerkung: Die Recherche zu diesem Beitrag wurde stark erschwert, weil als Antwort auf die Datenschutz-Grundverordnung der EU zahlreiche US-amerikanische Websites mittlerweile für europäische Besucher gesperrt wurden.