KW 36/2017 – Michigan City – Barrierefreiheit: Fehlanzeige

Guido KorffBild der Woche

In den USA waren die Eisenbahnen oft vor den Städten da; die Siedler ließen sich später links und rechts der Bahnlinien nieder und in vielen Provinzstädten fährt die Eisenbahn auch heute noch die Hauptstraße entlang. Szenen wie auf unserem Bild sind deshalb in den USA durchaus nicht ungewöhnlich.

Bei der „Chicago South Shore & South Bend Railroad“ (CSS&SB) handelt es sich trotz ihres Namens jedoch nicht um eine „klassische“ Eisenbahn, sondern um eine „Interurban“, also eine Art Überlandstraßenbahn. Viele Jahre lang galt sie – bis zum Beginn der Renaissance der Stadtbahnen auf ehemaligen Eisenbahnstrecken in San Diego – als die einzige Überlebende ihrer Art. Berühmt war sie für ihre Pullman-Züge, die Ihr Redakteur aber nicht mehr kennengelernt hat.

Gebaut zwischen 1901 und 1908 verläuft die Strecke aus dem Zentrum von Chicago (Bahnhof Randolph Street) in einem Viertelkreis um den südlichen Michigan-See, bis sie nach 90 Meilen (ca. 140 Km!) am Flughafen von South Bend endet. Nach dem Konkurs der privaten Betreibergesellschaft im Jahre 1989 wurde der Güterverkehr in eine eigene Gesellschaft ausgegründet, während der Personenverkehr seitdem einer Organisation des Bundesstaats Indiana untersteht. In der Folge wurde die Infrastruktur aufgeteilt. Die Güterzüge umgehen heute die Städte an der Strecke, der Personenverkehr sucht dagegen nach wie vor die Nähe der Fahrgäste. Im unmittelbaren Einzugsbereich von Chicago sind die Stationen heute auch weitgehend S-Bahn-mäßig ausgebaut.

Wir sehen hier einen Sechswagenzug aus drei Doppeltriebwagen an der Haltestelle 11th Street in Michigan City, Indiana, ca. 80 Km von Chicago entfernt. Insgesamt ist der Zug ca. 156 m lang, sechs Stromabnehmer liegen an der Fahrleitung mit 1.500 Volt. Wenn er hier anhält, ist der Ort also vorübergehend zweigeteilt.

Mangels eigener Waggonindustrie stammen die eingesetzten Fahrzeuge vom japanischen Hersteller Nippon Sharyo; sie wurden von 1982 bis 2001 beschafft. 2009 kamen noch einige Doppeldecker von der gleichen Firma hinzu.

Jeder Wagen hält pro Seite nur drei schmale Türen für den Fahrgastwechsel bereit – für den Vorortbetrieb im Süden Chicagos sicher schon keine optimale Lösung. In Michigan City wird es aber noch seltsamer: es gibt keinerlei Bahnsteige und auch nicht das bei Amtrak obligatorische Holzbänkchen. Dadurch sind die jeweils mittleren Einstiege der Wagen überhaupt nicht zu erreichen, denn bei ihnen fehlen die Treppenstufen! Hinzu kommt: die Fahrgäste nutzen nur eine einzige Tür (von theoretisch 18 im ganzen Zug!) für den Einstieg. Immerhin bilden sie dafür eine ordentlichen Warteschlange im besten englischen Stil, die bis in das links am Rand sichtbare Wartehäuschen reicht – überwacht vom Stationsaufseher. Hier gehen die Uhren offensichtlich noch anders!

-gk- / Foto: -gk- (2. Juli 2000)